Arbeitslosenintitiative
Nov 012011
 

Gerechtigkeitslücke

ali

Die Arbeitsloseninitiative stellte den Sozialstaat auf den Prüfstand

(noa) Das war mal eine andere Art ALI-Versammlung: ein Geistlicher als Referent. Bernhard Busemann, Pastor der Christus- und Garnisonkirche, gestaltete bei der Arbeitsloseninitiative einen Vormittag zum Thema „Sozialstaat auf dem Prüfstand“.

Erfreulicherweise war diese „biblische Annäherung an das Thema“ kein Referat, sondern angelegt und durchgeführt als Gedankenaustausch aller Anwesenden. Pastoral war es zwischendurch auch mal, als Busemann die Geschichte von Zachäus (Lukas 19, 1 – 10) darbot: „Und er ging nach Jericho hinein und zog hindurch. Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt. Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen. Und als Jesus an die Stelle kann, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt. Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück. Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn. Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“

In dieser Geschichte aus der Bibel, so Busemann, wird eine Gerechtigkeitslücke sichtbar, und insofern erzählt sie von einer hochmodernen Grundspannung. Trotz „Aufschwung“ besteht nach wie vor ein millionenstarkes Heer von Arbeitslosen, und nicht nur diese, sondern darüber hinaus 1,4 Millionen Geringverdiener sind auf Transferleistungen angewiesen. Seit Einführung des SGB II im Jahr 2005 haben die Steuerzahler mehr als 50 Mio. Euro für die Existenzsicherung von Menschen aufgebracht, die zu Niedriglöhnen oder in Teilzeit arbeiten und von ihrer Arbeit nicht leben können – und die Zahl der „Aufstocker“ steigt weiter. Busemann bezog sich mit diesen Informationen auf einen Vortrag, den Nikolaus Schneider (Ratsvorsitzender der EKD) im September 2010 vor der Mitgliederversammlung der Evangelischen Fachstelle für Arbeits- und Gesundheitsschutz (EFAS) gehalten hat. Der größere Teil dieser Menschen, die so wenig verdienen, dass sie von ihrem Lohn nicht leben können, haben eine Berufsausbildung – dagegen, dass ihre Arbeit nur so wenig wert sein soll, dass ihre Firma ihnen keinen existenzsichernden Lohn zahlen kann, sprechen die steigenden Gewinne in einigen Branchen.

Und: Die VerbraucherInnen sind an dieser Entwicklung ebenfalls beteiligt, insofern sie für Dienstleistungen wenig bezahlen wollen (können). Busemann: „Auf der einen Seite: Arbeitslosigkeit und Erwerbslosigkeit haben eine brutale Realität, die die Lebensbedingungen und die Würde von Menschen grundlegend und alltäglich betrifft. Auf der anderen Seite: Es scheint ein virtuelles System von Macht und Geld zu geben, das den Boden der Realität und der Gerechtigkeit verlassen hat.“ (Kurz nach der ALI-Versammlung berichtete „frontal 21“ über die Spekulationen mit Lebensmittelpreisen, mit denen u.a. die Deutsche Bank am Hunger in der Welt viel Geld verdient.)

Busemann sieht Zachäus als Synonym für ein System von Reichtum, das ohne Wirtschaftsleistung oder Gegenleistung Gewinne abschöpft, und fordert, die Gerechtigkeitslücke zu schließen. Sein Appell an die soziale Verantwortung der Reichen und Mächtigen, so die Diskussion, wird allerdings nicht reichen. Es ist eine Machtfrage. In den Wochen nach der ALI-Versammlung verging kein Tag, an dem nicht in politischen Magazinen und Nachrichtensendungen die Regierung aufgefordert worden wäre, ihre Ankündigungen aus 2008 anlässlich der letzten Bankenkrise, hier regulierend einzugreifen, endlich wahr zu machen. „Die Zachäusgeschichte ist ein christliches Leitbild zur Überwindung einer offensichtlichen Gerechtigkeitslücke in einer Gesellschaft. Die Suche nach Werten und Handlungsorientierung findet einen eindeutigen Maßstab: Es geht um ökosoziale Verantwortung und auch um Mut, Wahrheiten auszusprechen.“ So das Resümee von Pastor Busemann. Um das angekündigte Thema „Sozialstaat auf dem Prüfstand“ abzurunden, fehlte an diesem Vormittag eine Konsequenz aus der Zachäus-Geschichte und aus Busemanns Resümee: Die Gerechtigkeitslücke wird nicht geschlossen werden, indem man darüber spricht, dass es da einen „eindeutigen Maßstab“ gibt. Man muss erreichen, dass dieser Maßstab auch (wieder) für die Gesetzgebung zur Geltung kommt.

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